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Der Wunderheiler: Zwicken und Zwacken in der Hüfte

Kurzgeschichte von Thomas Berscheid

Da ist es wieder, dieses Zwicken und Zwacken in der Hüfte, irgendwo zwischen den Nieren und dem Bauchnabel, auf der linken Seite. Nach einem harten Arbeitstag in der Kanzlei steigt der ausgepumpte Rechtsanwalt die Treppen zu seiner Wohnung in der Werkstattstraße hoch, fingert den Schlüssel ins Schloß und gleitet in die Wohnung. Aus dem Zimmer des Sohnes dringt Musik, „Faith Healer“, das paßt, denkt sich der Vater. Er geht in die Küche, setzt einen Tee auf und wirft die Schuhe von sich.

Die Nacht bringt keine Erleichterung, immer wieder meldet sich das Zwicken im Rücken, fragt den geplagten Mann ‚Schläfst Du schon?‘ und zieht sich kichernd hinter die Wirbelsäule zurück. Er kann nicht schlafen, liegt wach, als die Sonne aufgeht, fragt sich, was er machen kann. Soll er zum Arzt gehen? Sein alter Hausarzt ist vor wenigen Monaten aus dem Leben geschieden, eine Tatsache, die sein Vertrauen in die Ärzteschaft nicht gerade gestärkt hat. Der Wecker geht, stöhnend erhebt sich der Mann, der gerade auf die 50 zugeht, sich aber an diesem Morgen alt genug fühlt, in Rente zu gehen. In Gedanken sieht er sich schon zitternd auf den Stock gestützt, den Rücken gebeugt, das Gebiß klappert ihm im Mund herum, nur eines hat sich nicht geändert: Der Zwicken im Rücken erfreut sich frohlockenden Lebens.

Der Wecker geht, er stellt ihn ab, wach war er ohnehin. Vorsichtig schlüpft er unter der Bettdecke hervor, um das Zwacken nicht zu reizen, stolpert in den Flur, greift zum Telefon und spricht in der Kanzlei auf den Anrufbeantworter, daß er heute zum Arzt geht.

Ein ungutes Gefühl beschleicht den Mann, als er vor der Tür des Heilpraktikers steht, den ihm ein Freund aus alten Studienzeiten empfohlen hat. Eine sanfte Schelle gibt ein zartes Geräusch von sich, als er auf die selbstgetöpferte Schelle drückt. Wenige Augenblicke später öffnet eine nicht mehr ganz junge Dame mit verbindlichem Lächeln und einem auffälligen indischen Gewand. Aber auch die freundliche Dame kann den Kloß im Hals unseres Freundes nicht lösen. Er tritt ein, wird in das Wartezimmer geleitet und nimmt dort Platz.

Viele Wartezimmer hat unser erfolgreicher Rechtsanwalt ja in seinem Leben gesehen, viele auch aus der Grünen Ecke. Aber dieses hier ist anders. Freundliche Masken von Naturvölkern des gesamten Globus hängen neben Schrumpfköpfen aus dem südamerikanischen Urwald und Pfeilspitzen der Eskimos; Darstellung ritueller Heilungen verbreiten das Ambiente eines Vorzimmers vor dem Büro des Henkers. Die beiden Gestalten, die sich neben ihm noch im Wartezimmer befinden, sehen auch nicht gewöhnlich aus, sie scheinen mystisch verklärt ihres Schicksales zu hadern. Er greift nach einer Zeitschrift und vertieft sich in eine philosophische Abhandlung der Sado-Masochistischen Aspekte des Kamasutra.

Kaum hat der Mann das Kapitel mit den Peitschen beendet, holt ihn die Sprechstundenhilfe aus den Träumen. Sie führt unseren Freund durch einen gedämpften Flur in ein Behandlungszimmer, daß sich vom Wartezimmer in der Dekoration kaum unterscheidet. Ihm läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter, er fragt sich, ob er später auch als Schrumpfkopf an der Wand hängen wird. Hat er eigentlich die anderen Patienten wieder herauskommen sehen? Er ist sich dieser Sache nicht mehr ganz sicher.

Endlich kommt er, der vielbewunderte Wunderheiler, blond und blauäugig in einem indischen Kostüm mit marokkanischem Oberteil. Mit gefalteten Händen begrüßt er den Patienten, der sofort loslegen will, wo es ihm überall schmerzt. Aber der Heiler legt ihm den Finger auf die Lippen, legt ihm die Hand auf die Stirn und dringt in die Psyche unseres Freundes ein. Er kann gar nichts mehr sagen, er ist viel zu verblüfft.

„Ich sehe“, spricht der Heiler wie aus weiter Ferne, „ich spüre in ihren Gedanken einen Schmerz, der aus dem Rücken kommt.“ Er atmet tief durch. „Ein Schmerz nicht aus körperlichem Unwohlsein. Mein Freund, es hat Gründe in deinem Geiste, daß du den Schmerz spürst.“ Der Heiler nimmt die Hand von der Stirn unseres Freundes.

Der nun wieder ist von der Methodik des Heilers keineswegs hellauf begeistert, rutscht unsicher auf der Bahre hin und her. Der Heiler nimmt ein Pendel, bedeutet unserem Freund, sich auf den Rücken zu legen und läßt es ausschlagen, murmelt dabei undeutliche Worte vor sich hin. Die Schwester kommt herein, gibt dem Heiler eine Tüte, der Geruch von Canabis erfüllt den Raum. Gut, denkt unser Freund, er hat als Student reichlich gekifft, aber muss das jetzt sein? Der Heiler dreht sich von hinnen, schwebt eine Handbreit über dem Boden, als er zu einem Schrank geht, um aus diesem ein medizinisches Gerät zu holen.

„Mein Sohn,“ hallt es aus weiter Ferne, „wir werden dein Übel ein für alle Mal aus der Welt schaffen, und nie wieder wirst du von Schmerzen geplagt werden.“

Unserem Freund stehen die Haare zu Berge. Der Heiler holt mit langsamen aber sicheren Bewegungen ein langes Buschmesser aus dem Schrank. Gemäßigten Schrittes geht er auf den Patienten zu, die Augen fast geschlossen, einer inneren Eingebung folgend, mit entspanntem und konzentriertem Gesichtsausdruck. Als er nur noch zwei Schritte von unserem Freund entfernt ist, springt dieser mit einem lauten Schrei der Verzweiflung auf, reißt die Tür auf und stolpert in den Flur. Die Schwester kommt ihm mit einem Tablett Heilpflanzen entgegen, Blumenerde fliegt durch die Luft, als sie zu Boden geht. Geschafft, denkt unser Freund, während er die Tür aufreißt und auf die Straße stürmt. So gerannt ist er seit der Demo gegen den Schah nicht mehr!

Der Heiler hatte recht, geht ihm die Erleuchtung durch den Kopf. Die Schmerzen sind tatsächlich weg.