Der Zivildienstleistende Heinrich Sobeck führt einen Kleinkrieg mit einem älteren Patienten. Als Heinrich den alten Nazi mit einer Geschichte aus dem Krieg konfrontiert, geschieht etwas, was niemand erwartet hatte…
Dimitris Papier: Suche nach georgischen Spuren in Frankreich
Im Herbst 2007 haben wir uns in Frankreich auf die Suche nach Spuren des Großonkels meiner Frau gemacht. Dimitri Kimeridze geriet am Ende des II. Weltkriegs in deutsche Kriegegefangenschaft. Weil Stalin alle Kriegsgefangenen zu Verrätern erklärte, konnte er nicht in seine Heimat Georgien zurück. Wir haben uns auf die Spurensuche in Frankreich gemacht. Was wir gefunden haben, übertraf alle Erwartungen. Hier ist die Geschichte von Dimitris Papier.
Spurensuche - Gedichte und Bücher zur Emigration aus Georgien
Sie stiegen aus. Ein leichter Nieselregen schlug sich auf der Frontscheibe ihres Wagens nieder. Ein Wetter, dass so gar nicht zu der gespannten Stimmung passte, in der beide zu diesem Bauernhof gefahren waren.
Gestern Abend war er ins Schwitzen gekommen. Sprechen Sie vielleicht georgisch? Ihre Frage konnte die Frau am anderen Ende der Leitung nicht richtig verstehen. Sie reichte das Handy an ihn weiter. Immerhin, sein französisch reichte, um zu erklären, was sie beide hier wollten. Als er das Handy auflegte, musste er den Schweiss von der Anzeige abwischen.
Jetzt sog er die Luft ein. Sah sich die Straße an. War es die gleiche? Es war jetzt mehr als ein Jahrzehnt her, dass er hier schon einmal durchgefahren war, durch diesen Teil Frankreichs, auf dem Weg zum Mittelmeer, mit dem Rad. Als hätte er damals schon gewusst, dass hier ein Teil eines anderen Lebens lagerte. Diese Luft. War es die gleiche, die Dimitri auch geatmet hatte?
Sie ging hinter ihm her, denn ihr französisch reichte nicht für mehr als Guten Tag und Guten Abend. Ländliches Frankreich. Nicht einmal ein Klingelschild an der Tür. Eine freundliche, nicht mehr ganz junge Frau nahm sie beide im Empfang. Er begann wieder zu schwitzen, klaubte sich die richtigen Worte aus dem Hinterkopf.
Was hatten sie eigentlich erwartet? Eine Woche zuvor, da hatten sie sein Grab gefunden. Fast 30 Menschen, die nicht mehr nach Georgien zurückkehren konnten, alle vereint in einer Gruft. Sie erinnerte sich an den Brief, mit dem ein Freund von Dimitri der Familie mitgeteilt hatte, dass er gestorben sei. Nun lag auch er in dieser Gruft. Sie konnten nicht mehr mit ihm reden. Wären sie doch ein paar Jahre früher schon auf diese Idee gekommen!
„Kommen Sie doch rein“, sagte die Frau, „mein Mann ist gerade außer Haus, kommt aber bald wieder. Er hat etwas für Sie bereitgestellt.“
Etwas. Ein paar Kleinigkeiten. Vielleicht zwei, drei Briefe. Vielleicht ein paar Bilder, einen Band mit den Gedichten, die er geschrieben hatte. Ein kleiner Teil dessen, was ein Mensch in vierzig Jahren in der Fremde hinterlässt.
Der Tisch bog sich unter dem Stapel an Paper, der auf ihm lag.
„Das ist alles von meinem Großvater?“ fragte sie ungläubig.
„Das gehört alles Ihnen, sagte mein Mann“, antwortete die Frau und wies mit einer Geste über den Tisch.
Er ließ die Luft aus den Lungen, trat an den Tisch. Mehr als 30 Bände mit Gedichten. Sein erstes Buch. Er konnte kein georgisch, aber er sah die Bilder. Dimitri, direkt nach dem Krieg, nun schon Ende 30, als Student eingeschrieben in Graz. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Nicht, weil er die Fotografie kannte. Ein Cousin von ihr sah so aus.
Sie konnte es nicht fassen.
„Weime“..
Sie nahm einen der Briefe, irgendeinen. Sie stutzte. Die Handschrift kannte sie. Ihre Großmutter. Dimitris Frau. „Weißt du eigentlich, wie süß...“ begann der Brief. Dann las sie ihren eigenen Namen. Eine Träne rollte an ihrer Wange herunter. Ihre eigene Geburt. Sie musste sich setzen.
Er griff in die Schublade. Ein Leben, gesammelt in Dokumenten. Verwaltet. Aufgehoben für die Ewigkeit. Ein Leben in der Fremde.
Komm doch nach Hause. Wie oft sie diesen Satz las. Wie oft er in seinen Briefen nach Georgien geschrieben hatte, dass er am liebsten in die Heimat zurückkehren würde. Wie oft sie es ihm geschrieben hatte. Welche Tränen musste Dimitri vergossen haben, als er diese Zeilen las.
Er las die Briefe aus Paris. Sie haben ihn als Flüchtling anerkannt und unter den Schutz des französischen Staates gestellt. Haben es 1970 getan, 1975 und auch 1980. Niemals ist er Franzose geworden. Immer blieb er Georgier.
Du hättest sie heiraten sollen, schrieb ein Freund. Sie war eine gute Frau. Nun hat sie zwei Kinder von einem anderen. Gab es eine andere Frau? Also doch? Aber er war ihr treu geblieben.
Er nahm den Ausweis in die Hand. Sah im Wörterbuch nach. Altenheim. Ein großes Autowerk.
„Wusstest du eigentlich, wann er Geburtstag hatte?“ fragte er.
„Nein“, antwortete sie.
„Im nächsten Jahr können wir den Hundertsten feiern“, sagte er und zeigte ihr den Ausweis.
„Ich habe ihn kennengelernt, als ich klein war“, sagte der Vorsitzende. „Er war ein netter Mensch.“ Das erste, was sie von Dimitri persönlich hörten.
Sie schlug einen der Gedichtbände auf. Mein Grab wird in der Fremde sein. Ich habe mein Leben gegeben für diese Menschen, habe gekämpft für mein Land, und was haben Sie mir gegeben? Ich bin alt, ich werde sterben und mein Gram wird mit mir ins Grab gehen.
Er sprach zu ihnen, sprach aus diesen Zeilen, sprach aus den Bildern. Wer waren diese Menschen, die da mit ihm auf diesem Gruppenfoto waren.
1941 freiwillig in den Krieg gezogen. Mehrfach verwundet. In deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, von Stalin zum Verräter abgestempelt und die Rückkehr unmöglich. Drei Jahrzehnte beim Autobauer, wie Hunderte andere Georgier. Die Hoffnung, das sich das System irgendwann bessere und er wieder nach Georgien zurückkehren könnte.
„Sie können alles mitnehmen“, sagte der Vorsitzende. „Es ist Ihre Familie. Es gehört Ihnen.“
Er musste nachfragen. Das konnte nicht sein. Vielleicht einen Blick hineinwerfen, vielleicht ein paar Kopien machen, das hatten sie sich gedacht. Sie waren sprachlos.
Ein Minister der ersten Regierung Georgiens hatte ihm geschrieben. Die ersten Gedichte, kurz nach dem Krieg. Ein Haus hatten sie gekauft, hatten dort gewohnt, einen Verein gegründet, gefeiert, auf die Heimat getrunken, Lieder gesungen.
Der Vorsitzende holte eine Kiste. Sie packten ein Leben hinein. Ein Leben, das ihnen näher gekommen war.
Georgien ist in den Händen der Kommunisten, stand auf der Karte. Eines Tages aber wird Georgien wieder frei und ein unabhängiger Staat sein, haben Sie auf die Karte geschrieben. Hätte Dimitri nur fünf weitere Jahre seines Lebens gehabt! Er hätte es sehen können, die Demonstrationen und der Kampf, der Beginn der neuen Freiheit!
Der Autobauer hatte dieses Altenheim, das auf dem letzten Ausweis stand. Dort also hatte er die letzten Jahre verbracht, hatte noch geschrieben, als sich die alten Wunden aus dem Krieg meldeten.
Er schleppte die Kiste durch den leichten Nieselregen, der so gar nicht zu ihrer Stimmung passte. Ein Leben lag darin, dass anfing, zu ihnen zu sprechen. Er sog die Luft ein, die Dimitri damals geatmet hatte. Sie wussten, dass jetzt viel, sehr viel Arbeit vor ihnen lag.
Thomas Berscheid
Oktober 2007