Der Zivildienstleistende Heinrich Sobeck führt einen Kleinkrieg mit einem älteren Patienten. Als Heinrich den alten Nazi mit einer Geschichte aus dem Krieg konfrontiert, geschieht etwas, was niemand erwartet hatte…
Jackpot: Kurzgeschichte mit Heinrich Sobeck
Heinrich Sobeck kommt in den Kiosk und 25 Millionen winken
Meine Oberschenkel brauchten Bewegung. Ich hatte zwar nur zwei Stunden auf dem Mountain Bike verbracht, aber die hatten es in sich. Einmal mehr hatte ich das Bergische Land unterschätzt. Jetzt versuchte ich die Milchsäure aus den Muskelfasern zu drücken, bevor sie sich zum ausgewachsenen Muskelkater ausweiten konnte.
Ich versank in Betrachtungen über das Leben und die Muskeln, während ich durch die Straßen des Agnesviertel streifte. Die Nacht war früh gefallen im Winter, die Kälte zog durch die Straße, und meine Oberschenkel kühlten endlich ab.
Sollte ich noch ein Bier holen? Ich kämpfte mit mir. Ich ging an einem dieser Kioske vorbei, die bis 24 Uhr geöffnet haben, davon gab es hier jede Menge. Nein, Sobeck, du bist zu dick. Ich ging weiter.
Vor einem Tabakladen blieb ich stehen. Es ist ja normal, dass so kurz vor Weihnachten die absolut geschmacklosesten blinkenden Gegenstände in den Fenstern hängen. Auch dass dicke Männer in roten Mänteln mit geilen Blicken Frauen vor dem Schaufenster anstarren. Aber in diesem Laden spielte sich Eigenartiges ab.
Ich drückte meine Nase ans Fenster. Hinter der Dekoration sah ich schemenhaft eine Gestalt, die sich über die Kasse beugte. Der Pächter dieses Ladens war Türke und korpulent, die Gestalt da hinten männlich, offensichtlich blond und dünn. Ein Einbruch.
Ich fingerte mein Nokia aus der Innentasche meiner Lederjacke, ohne die Augen von dem Typ an der Theke zu nehmen. Die Polizei würde sich bestimmt freuen, wenige Tage vor Weihnachten etwas zu tun zu bekommen.
Aber das sah irgendwie nicht nach Einbruch auf. Der Typ versuchte gar nicht erst, die Kasse aufzubrechen. Er schien immer wieder irgendetwas zu schreiben und dann zu faxen. Komisch. Die Sache begann mich zu interessieren. Meine sprichwörtliche Neugier stieg in mir hoch. Ich ignorierte die Regel Nummer Eins, niemals ohne Hilfe oder Nachricht an einen Redakteur in einen Kriminalfall reinzugehen. Ich drückte die Hand gegen die Tür. Sie war nur angelehnt.
Hatte der Typ also die Tür aufgebrochen. Ich drückte vorsichtig auf den Griff, schob die Tür ganz langsam auf. Atmete einmal kurz durch und setzte einen Fuß auf die Treppenstufen. Dann stand ich in der Tür, geduckt und teilweise hinter einem Zeitschriftenständer verborgen. So konnte ich beobachten, was der Typ da machte.
Nein, der Inhaber war dies wirklich nicht. Der Mann an der Theke mochte so um die 40 sein, sag nicht recht gepflegt aus. Nun wußte ich auch, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Auf dem Lesegerät für die Lottoscheine blinkte die Zahl 25 auf. Der Jackpot im Samstagslotto lag gerade bei 25 Millionen Euro. Der Typ hinter der Theke nahm einen Lottoschein nach dem anderen, füllte ihn aus und drückte ihn in die Maschine. Nur zahlen wollte er nicht. Irre.
„Was machen Sie da?“ fragte ich und richtete mich auf.
Der Typ schreckte hoch. Er griff auf die Theke. Und richtete einen Waffe auf mich.
‚Sobeck, Du bist dümmer als Brot‘, dachte ich.
„Herkommen!“ herrschte der Typ mich an. „Los. Dalli.“ Kommandoton. Konnte ich noch nie ausstehen. Ich gehorchte.
„Was willst Du?“ fragte mich der Typ.
„Gegenfrage“, blieb ich so cool, wie es mein rasender Puls erlaubte. „Was machen Sie außerhalb der Geschäftszeit an der Lottotheke?“
„Geht dich nichts an!“ herrschte der Typ mich an. „Bist Du `n Bulle?“
„Ne, ein armer Germanistikstudent“, log ich.
„Intellektueller. Pah!“ blaffte der Typ mich an.
„Bevor ich erschossen werde“, kopierte ich Ingo Appelt, „was machen Sie da eigentlich? Das Geld ist in der anderen Kasse.“
„Interessiert mich nicht“, sagte der Typ und winkte mich mit der Pistole weiter heran. „Ich will den Jackpot. Ich will die 25 Millionen.“
„Und was tun Sie dafür?“ fragte ich, als wäre es eine normale Reportage.
„Ich verbessere meine Chancen“, grinste mich der Typ an. „Und jetzt stell Dich da hin, Student. Lass die Hände auf dem Kopf.“
Ich tat wie geheißen. Der Typ nahm einen Schein aus dem Präsentationskasten, hielt ihn mit der Linken fest, legte die Pistole hinein, sah kurz auf mich und füllte in flottem Tempo die Tippreihen aus. Schnell war der Typ, das musste ich ihm lassen. In kaum einer Minute hatte er alle 12 Tippreihen ausgefüllt. Er legte den Zettel in den Scanner und ließ ihn durchlaufen. Auf dem Bildschirm darüber zeigte die Kasse das Geld an, dass sie haben wollte. Der Typ zahlte nicht. Er nahm sich den nächsten Schein.
Wie lang sollte das so weitergehen? Ich überlegte, wie ich die Situation zu meinen Gunsten abkürzen konnte. Meine Arme begannen müde zu werden.
„Soll ich Ihnen helfen?“ fragte ich. „Zu zweit geht das schneller.“
Der Typ blickte mich an.
„Komm her“, winkte er mich mit der Pistole in der Linken heran. „Tippzettel nehmen. Ausfüllen. Bring den Kuli mit.“
Endlich die Hände runter. Ich nahm den Kuli mit Kette von dem Tisch, auf dem die Tipper ihre Kreuze machten, und bewegte mich zur Theke. Wenigstens konnte ich den Typ hinhalten.
„Welche Zahlen soll ich ankreuzen?“ fragte ich. „Nach welchem System?“ Ich nahm einen Schein und ließ den Kuli über dem Papier pendeln.
„Diese hier“, sagte der Typ und gab mir einen der ausgefüllten Zettel.
Ich stutzte. Alle 12 Tippreihen hatten dieselbe Kombination. Bislang dachte ich, einen Kleinkriminellen vor mir zu haben. Nun fürchtete ich vor einem Irren zu stehen.
„Der Schein ist ungültig“, sagte ich und fasste meine Zweifel in Worte.
„Klugscheißer“, blaffte der Typ mich an. „Du willst mir erklären, wie man Lotto spielt?“
„Warum kreuzen Sie immer dieselben Zahlen an?“ fragte ich. „Damit haben Sie nur eine minimale Chance, zu gewinnen.“
„Nein“, sagte der Typ. „Das sind die Zahlen von nächster Woche.“
„Alle Zettel mit derselben Kombination?“ fragte ich weiter. „Kann ich mal sehen?“
„Natürlich.“ Der Typ hielt mir mit der Linken einen Bündel Zettel hin. Die Scheine baumelten neben der Pistole herunter. Er zeigte nicht mehr mit dem Lauf auf mich, die Scheine pendelten fast direkt vor meiner Nase.
Das war die Chance. Mein rechter Arm schnellte zur Seite. Ich donnerte seinen Unterarm mit der Pistole dran gegen den Stahlrahmen der Kasse. Der Typ sah mich etwas verdutzt an, aber nur rund eine Sekunde. Dann traf meine Linke mit voller Wucht sein Kinn. Der Typ klappte hinter der Theke zusammen. Ich nahm die Pistole aus seiner Hand und ließ den Arm los, der auch nach unten verschwand. Meine linke Faust tat weh, ich hatte mich gestern beim Training leicht verletzt. Dem Typ würde das Kinn jetzt deutlich mehr Schmerzen bereiten.
Ich nahm den Stapel mit den Scheinen in Augenschein. Tatsächlich. Alle Scheine waren mit derselben Kombination ausgefüllt. Auch wenn er Statistiker sein sollte, konnte er seine Quote damit nicht verbessern.
Die Pistole erschien mir zweifelhaft. Zu leicht. Sollte ich etwa.... Ich versuchte die Waffe zu sichern und das Magazin herauszunehmen. Ging nicht. Das war eine Wasserpistole. Wenn auch eine verdammt echt aussehende Kopie. Blödes Weihnachtsgeschenk.
Der Glückspilz hinter der Theke regte sich. Ich legte die ungefährliche Waffe auf der Theke ab und beugte mich über den Mann. In diesem beengten Raum konnte ich ihn nicht untersuchen, also griff ich ihn am Kragen seiner Jeansjacke und zog ihn in den Vorraum, legte ihn auf dem Teppich ab. Ich tastete seine Taschen ab, er hatte offensichtlich keine Waffen mehr bei sich, und zog ihm die Jacke nach hinten über die Ellbogen, damit er sich nicht mehr bewegen konnte. Zeit, endlich bei der Polizei anzurufen. Ich gab die Adresse durch und wartete auf die zuckenden Blaulichter vor der Tür.
Kaum hatte ich das Handy eingesteckt, wachte der Tipper auf. Ich legte ihn auf den Bauch und drehte seinen rechten Arm nach hinten.
„Die Freunde und Helfer kommen gleich“, sagte ich. „Jeglichen Gedanken an Flucht solltest du verscheuchen, Junge“, sagte ich, nun mit der Machtkarte in der Hand. „Aber erklär mir eine Sache: Woher kennst Du die Zahlen der nächsten Woche?“
„Werd‘ ich Dir nicht verraten“, bekam ich zur Antwort.
„Schade“, sagte ich. „Dann muss ich bei der Zeugenvernehmung wohl sagen, dass Du mich mit der Waffe bedroht und gezwungen hast, hier einzubrechen. Und auch noch ein paar andere Sachen, die dich belasten. Also?“
„Das Pendel hat mir die Zahlen verraten“, antwortete der Tipper.
„Bitte?“ fragte ich nach. „Bist du Esoteriker?“
„Klar“, antwortete der blonde Mann unter mir. „Dieses Mal wird es klappen. Das Pendel hat mich noch nie angelogen.“
Ich ließ den Arm los. Vor der Tür endete der Lärm der Martinshörner. „Liegen bleiben!“ bedeutete ich dem Tipper und ging zur Tür. Zwei Uniformierte kamen herangestürmt, einer mit gezogener Waffe.
Ich machte die Tür auf und schob die Hände nach vorne. „Er liegt hinten auf dem Boden“, sagte ich zu den Beamten. „Entweder ein Irrer oder ein Drogenopfer.“
Zwei der Beamten stürmten auf den Mann los, der mit der Waffe in der Hand steckte diese wieder ein. Die beiden Männer nahmen den Mann hoch und schleppten ihn nach vorne. Jetzt erst sah ich, dass er am Kinn blutete. ‚Volltreffer, Sobeck‘, sagte ich zu mir.
Ein Bulle mit drei Sternen auf der Schulter kam zu mir.
„Was machen Sie hier?“ fragte er mich als erstes. Ich berichtete ihm in drei Sätzen über die letzten 15 Minuten.
„Sie sind Journalist?“ fragte er mich zur Person.
„Freier Mitarbeiter einer Handvoll Redaktionen“, antwortete ich.
„Dann sollten Sie wissen, dass Sie uns besser zuerst angerufen hätten“, schnauzte der Bulle mich an. „Wenn die Waffe echt gewesen wäre, könnten Sie jetzt tot sein. Und jetzt zeigen Sie mir die Scheine.“
Wir gingen zur Theke. Der Bulle sah sich den ersten Schein an. „Das pack ich nicht!“ stammelte der stämmige Bulle wie eine hysterische Frau. Er nahm sich den nächsten Schein, den dritten und verteilte dann die Scheine über die ganze Theke. „Immer dieselbe Kombination!“ sagte er zu mir, mit einem Ausdruck des Entsetzens in den Augen.
„Sieht irre aus“, antwortete ich und fragte mich, ob jetzt alle hier abdrehen.
„Und es ist genau dieselbe, die ich seit 10 Jahren tippe!“ sagte der Bulle zu mir, augenscheinlich fassungslos. „Wenn die jetzt am Wochenende kommt, bekomme ich genug Geld für ein Eis.“
„Vielleicht sollten wir doch dem Pendel glauben“, sagte ich zu mir. Und verdrängte den Gedanken, noch schnell ein paar Tippreihen auszufüllen, um an die 25 Millionen zu kommen.