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Die falschen Schuhe: Rechtsanwalt und Sohn und Nike

Kurzgeschichte von Thomas Berscheid

Eine gebeugte Gestalt tritt vor die Tür des Hauses in der Werkstattstraße. Der Junge zieht einen Schlüssel aus der Tasche seiner Jeansjacke, schließt die Tür auf und geht langsam die Treppe hoch. Er knallt den Rucksack auf das Bett, setzt sich daneben und vergräbt das Gesicht in den Händen. Ihm fließen keine Tränen über die geröteten Wangen, er hat gelernt sich zu beherrschen. Der Gameboy verschafft ihm Abwechslung.

Die Tür geht, der Vater des Jungen kommt herein, hört das Piepen des Gameboys, klopft an der Tür und tritt ein.

„Na, Sohn, wie war der Tag?“

„Lass mich in Ruhe!“ Die Antwort kommt kurz, knapp und eindeutig.

Was ist passiert? Was um alles in der Welt hat sich zugetragen? Für den erfolgreichen Rechtsanwalt bricht eine Welt zusammen! Nie im Leben hat er es erlebt, dass sein Sohn ihm auf diese Art begegnet wäre!

„Jetzt sag doch mal, was war denn los?“

„Ach, das verstehst du nicht, Pa. Davon hast du keine Ahnung.“ Der pubertierende Junge blickt nicht einmal vom Super Mario auf.

„Sohn, wir haben doch immer über alles reden können. Sag doch, was ist mit dir los?“

„Was mit mir los ist? Du mit deinem ewigen diskutieren. Du mit deinem ‚Wir können über alles reden‘ und deinem Blödsinn mit diesen Ökos, mit denen du dauernd zu tun hast. Du hast doch gar keine Ahnung, was ich in der Schule mitmache! Und jetzt lass mich alleine.“

Der Vater schließt die Tür. Da ist irgendwas passiert, eine Sache, von der er bisher keine Ahnung gehabt hat. Hat er etwas falsch gemacht? Die Erziehung des Jungen hat er bisher immer allein geschafft, nach der Scheidung von seiner Frau. Die Selbsthilfegruppe hat ihm bisher immer dabei geholfen, wenn es Schwierigkeiten mit dem Sohn gab. Der Junge wird demnächst 14, wird langsam Zeit, dass er sich eine Freundin zulegt. Ist es das? Eine Frau? Er setzt einen Tee auf.

Zeit, sich um das Abendessen zu kümmern. Der Vater setzt Spaghetti auf, zerpflückt Hackfleisch und lässt den Duft des Oregano durch die Wohnung schwallen. Vielleicht kann das ja die Zunge des Jungen lockern, der sich den ganzen Nachmittag mit seinem Rechner eingeschlossen hat. Das Lockmittel wirkt, der Junge setzt sich an den Tisch, greift eine Gabel und dreht eine Nudel auf.

„Also, was ist? Willst du nicht immer noch mit Schweigen strafen?“ Vater legt einen leicht distanzierten Tonfall an den Tag.

„Ich habe die falschen Schuhe.“ Der Junge stopft die Nudel in den Mund.

„Wie bitte?“ Dem Vater fällt die Nudel von der Gabel.

„Ich habe die falschen Schuhe. Das haben sie mir heute gesagt.“

„Wieso die falschen Schuhe? Und wer hat dir das gesagt?“

„Die Nikes. Die sind die mächtigsten bei uns in der Schule, und ich habe keine Nikes.“

Dem Vater verschlägt es die Sprache. Die falschen Schuhe? Er blickt unter den Tisch, der Junge trägt irgendwelche No-Name-Schuhe. Die tun es genauso, hatte er ihm beim Kauf gesagt, den großen Firmen braucht man das Geld nicht in den Rachen zu stopfen. Sollte diese Entscheidung falsch gewesen sein? Der Vater räumt die Spülmaschine ein, räumt die Küche auf und setzt sich vor den Fernseher, macht etwas, was er sonst höchst selten tut: Er sieht sich Werbespots an, während der Sohn in den nächsten Club geht.

Pfui, was machst du da nur? Damals, als du studiert hast, da warst du bei den Demos gegen das Establishment dabei, hast dem Springer die Schaufenster eingeworfen und bist für die Revolution auf die Straße gegangen. Die ganzen Jahre hindurch hast du deine Gesinnung offen zur Schau getragen und den Job danach gesucht, hast deinen Sohn danach erzogen. Und jetzt plötzlich kommt der Kommerz und haut in dein Leben? Ein Werbespot flimmert über die Mattscheibe.

Tatsächlich, Nike schlägt sie alle, die haben echt den obergeilen Werbespot. Eine Magazinsendung kommt, ausgerechnet über Modeerscheinungen unter Jugendlichen. Ist es denn wahr? Da sind wir schon soweit, dass sich die Kids gegenseitig aufschlitzen, weil sie nicht die richtigen Schuhe tragen. Der Obermacker einer Jugendgang ist auf dem Schirm zu sehen, er ist einer von der Addidas-Gang, er droht allen von den Nikes mit dem Messer in den Bauch, wenn sie ihm über den Weg laufen. Bilder von Kids werden gezeigt, die von einer Gang gezwungen werden, ihre eigenen Schuhe zu essen.

Ja, das war es dann mit der antiautoritären Erziehung. Der Vater liegt in dieser Nacht noch lange wach und zermürbt sich das Hirn darüber, was er denn nur falsch gemacht hat. Waren es nur die falschen Schuhe?