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Grensel und Hete: Ein Märchen in der Zeit von Hartz IV

Es war einmal ein Holzfäller. Der lebte mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern Grensel und Hete in Köln Nippes. Und weil es in Köln nur noch ganz, ganz wenige Bäume gab, hatte der Holzfäller nicht mehr viel zu tun. Um genau zu sein, hatte er gar nichts mehr zu tun. Denn er hatte alle Bäume in einer Entfernung, die er beim Rauchen einer Zigarette abholzen konnte, gefällt. Und deshalb lebte der Holzfäller nun von Hartz IV.

Die Frau des Holzfällers hatte auch keine Arbeit. Ja, sie hatte sogar noch nicht einen Tag im Leben gearbeitet. Doch sie wollte immer die neuesten Jeans und die neuesten Röcke tragen. Aber da der Holzfäller nur von Hartz IV lebte, waren sie bettelarm. Ja, er musste sogar seinen geliebten 3er BMW verkaufen.

„Frau“, sagte der Holzfäller eines Tages zu seiner Gattin, „dies ist kein Leben. Wir müssen etwas tun.“

„Lass uns doch zum Herrn Müller gehen“, sagte die Frau und warf einen Blick auf Grensel und Hete. Die beiden Kinder waren so süß anzusehen, wie sie dort mit den Puppen spielten, die sie von der Caritas bekommen hatten. Sie saßen ganz in die Welt ihrer Phantasie versunken auf ihrem durchgelaufenen Teppich und spielten Mann und Frau. Sie nahmen die Barbiepuppe und die Kenpuppe, setzten sie auf ein gemütliches Sofa, dessen Polster schon ganz aufgerissen waren, genau wie das speckige Sofa in ihrer richtigen Wohnung, und spielten mit ihnen Fernsehen.

„Grensel!“ rief der Holzfäller. „Hete! Zieht euch was Warmes an. Wir gehen zu Herrn Müller.“

„Aber Papi!“ rief die kleine Grensel und sah ihren Vater, oder der Mann, der an der Seite ihrer Mutter lebte und vielleicht ihr Vater war, mit großen, feuchten grünen Augen an. „Wir haben doch noch nicht zu Ende gespielt.“

„Sei still, wenn dein Vater mit dir redet!“ schrie die Frau des Holzfällers Grensel an und drückte auf das Feuerzeug, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. „Und der Mantel bleibt hier! Der kommt auf den Flohmarkt!“ Sie warf einen Blick nach draußen. Vor den Fenstern der Sozialwohnung hatten sich Eisblumen gebildet.

Grensel nahm ihre dünne Stoffjacke und Hete nahm seinen Bundeswehrparka, der ihm viel zu groß war, der aber nicht sehr warm war, denn das Innenfutter war an vielen Stellen eingerissen. So gingen sie heraus aus der Eisentüre des Hochhauses, sahen eine rot-weiße Bahn vorbei fahren und gingen zu Fuß durch die einsame und grimmige Kälte, denn der Holzfäller war so bettelarm, dass er sich nicht mal eine Karte der KVB leisten konnte. Doch ihm war warm, denn er trug eine kuschelige Helly Hansen Jacke. Und die Frau des Holzfällers sah aus dem Fenster durch die Eisblumen und dachte an die neue Levis 501, die sie sich morgen im neuen Outlet Center kaufen wollte. Von dem Geld, dass sie für den Kindergarten von Grensel und Hete erhalten hatte.

Der Holzfäller klopfte an die große Tür des Tennisclubs, in dem der Herr Müller wohnte. Mit einem lauten, langen Knarzen öffnete sich ganz langsam die schwere Holztür des Hauses neben dem Park, in dem der Herr Müller wohnte.

„Was wollen…“ fragte der Herr Müller mit bösem Blick den Holzfäller. Doch dann sah er die süße Grensel und den unschuldigen Hete, auf dessen Backen sich noch kein Flaum eines Bartes niedergeschlagen hatte. Hui, wie da der Herr Müller geschwind leuchtende Augen bekam!

„Sie wissen, warum…“ begann der Holzfäller.

„Gewiss, gewiss“, antwortete der Herr Müller, trat einen Schritt zur Seite, zog seinen Bauch ein wenig ein und winkte den Holzfäller, Grensel und Hete in seinen dunklen Flur. Es roch ein wenig muffig in dem Flur, es roch nach Sauerkraut, das nicht mehr ganz frisch war, nach einer Schweinshaxe, die der Herr Müller gestern ganz allein aufgegessen hatte.

„Wieviel?“ fragte der Holzfäller leise.

Der Herr Müller zog eine schwere Schublade knarzend aus einem dunklen Schrank heraus. Dann holte er ein Bündel Papier, dass mit einem Gummi zusammengebunden war, aus der Schublade. Auf dem Papier waren Männer aufgedruckt, Frauen waren dort zu sehen, und Zahlen, bei denen dem Holzfäller ganz schwarz vor Augen wurde. Der Herr Müller strich mit dem rechten Zeigefinger seiner dicken Hände über seine Zunge und zählte mit dem feuchten Finger ein paar Geldscheine ab. Dann zog er ein paar Hundert Euro aus seinem Bündel und gab sie dem Holzfäller.

„Reicht das?“ fragte der Herr Müller.

Der Holzfäller nickte nur stumm, machte einen Diener und ging dann in den Flur.

Hete hörte, wie die Tür schwergängig zufiel.

„Na dann kommt mal mit“, sagte der Herr Müller und rieb sich die dicken Hände. Grensel wollte nicht. Herr Müller grinste sie mit seinen vorstehenden Zähnen an. Der Herr Müller hatte zwar Geld, viel Geld, aber er wollte dies nicht seinem Zahnarzt geben, denn seit er Kind war, hatte er Angst vor dem Bohrer und deshalb ging er nie zu dem bösen, bösen Zahnarzt und hatte ein schönes Sammlung schwarzer Zähne.

„Du brauchst doch keine Angst zu haben!“ sagte der Herr Müller und schob die kleine Grensel durch den Flur in sein Arbeitszimmer. Dort hing an einer Wand eine weiße Leinwand. Links und rechts von der Leinwand waren große, helle Scheinwerfer, die viel Licht und noch mehr Hitze abgaben. Und vor der Leinwand stand ein kleines Sofa.

„So, du setzt dich jetzt mal ganz fein auf das Sofa und ziehst dein Kleidchen aus“, sagte der Herr Müller zu Grensel. „Und dann darfst du mit deinem Brüderchen Doktorspiele machen. Und der gute Onkel Müller wird euch dabei filmen, damit auch andere Männer sehen können, was für ein süßes Paar ihr seid.“

Der Herr Müller griff auf eine Kommode, die neben dem Scheinwerfer stand. Dort stand lag ein rundes Ding. Hete hatte dies schon mal gesehen. Der Mann, der sich sein Vater nannte, hatte damit seiner Mutter zwischen den Beinen herumgespielt. Und Mutter hatte so komische Laute von sich gegeben, als ob ihr das weh tut, aber irgendwie doch schön war.

„Dann nimmst du das hier und spielst damit ein bissschen an dir herum“, sagte der Herr Müller zu der süßen Grensel. Ein kleiner Tropfen von Spucke lief an der fettigen Wange vom Herrn Müller herab. „Und dann kommt dein Brüderchen und ich werde ihm dieses schöne kleine Ding in sein süßes Loch stopfen, verstehst du? Aber erst darfst du damit Spaß haben.“

„Grensel!“ schrie Hete. „Nein. Tu das nicht!“

Mit ihren weit aufgerissenen grünen Augen voller Angst sah Grensel auf den Dildo, der so lang war wie ihr Ärmchen.

„Du kommst auch noch dran!“, sagte der Herr Müller langsam, aber mit dem Klang des Mannes, der es liebt, wenn andere sich unter seinen Händen vor Schmerzen winden. So wie die Hunde, die er früher mit dem Messer aufschlitzte und ihnen die Gedärme herausriss, als sie noch atmeten.

„Grensel!“ brüllte Hete, und Angst um sein Schwesterchen war in seiner Stimme. Er sah sich um. Da war dieses lange schwarze Ding neben dem Scheinwerfer. Der Herr Müller kam auf ihn zu.

„Du wirst dein vorlautes Maul halten, du ungezogener Bengel“, sagte der Herr Müller und kam auf Hete zu. „Gleich werde ich dir zeigen, was ich mit kleinen Jungs mache, die nicht hören wollen.“

Der Herr Müller war nur noch einen Schritt von Hete entfernt. Der kleine Junge war starr vor Angst. Nur nicht in die Hände von Herrn Müller fallen! Was hatten die anderen Mütter nicht alles erzählt, wenn sie mit traurigen, roten Augen, die tagelang geweint hatten, in den Kindergarten gekommen waren, weil ihre süßen Mädchen und ihre Jungs einfach verschwunden waren? Dass der Herr Müller kleinen süßen Kindern große, schwere Holzbalken in den Hintern stopft?

„Komm her, du…“ sagte der Herr Müller.

Hete wankte einen Schritt nach hinten, mit Augen so groß wie der Kakaobecher, aus dem er früher Kakao getrunken hatte, als sein Vater noch nicht Hartz IV hatte. Er stieß gegen die Kamera, die auf Grensel gerichtet war. Die Kamera fiel mit einem ganz lauten Krachen zu Boden, dass es dem armen Hete in den Ohren weh tat, und zersprang in Tausend und Abertausend Stücke.

„Du elender Wicht!“ schrie der Herr Müller plötzlich. „Das wirst du mir büßen!“

Der Herr Müller hob seine Hände hoch über den Kopf von Hete und wollte ihn packen, um ihm ganz, ganz langsam die Kehle zuzudrücken.

Aber Hete war ein schneller kleiner Junge. Behände machte er einen Schritt zur Seite. Kam dabei an das Kabel.

Mit einem leichten Ächzen neigte sich der große, helle Scheinwerfer zur Seite. Grensel lief auf den dicken Stab zu, auf dem der Scheinwerfer saß, und drückte mit aller Kraft gegen ihn. Ganz, ganz langsam drückte der Scheinwerfer auf den Kopf des Herrn Müller.

Der Herr Müller aber merkte erst ganz spät, dass da etwas auf ihm lag. „Das werdet ihr bereuen!“ schrie er und packte so fest an die große Lampe, dass das Glas platzte. Plötzlich schrie der Herr Müller auf. Er leuchtete. Sein dickes Gesicht, seine dicken Finger leuchteten plötzlich so hell auf, als sei er selber eine Lampe! Da drückte sich das Grensel ganz fest gegen den Hete und nahm ihn voller Angst in den Arm. Ui, wie der Herr Müller plötzlich schrie! Und wie er roch! So einen Geruch hatten beide das letzte Mal in der Nase gehabt, als der Papa noch nicht Hartz IV bekam und einmal in der Woche ein Stückchen Fleisch mit nach Hause brachte! Und der Herr Müller wurde nun immer mehr dunkel, wie ein Stück Fleisch, dass Mutter zu lange in der Pfanne liegen ließ, weil sie die Gerichtsshow bei SAT1 sehen wollte.

Da tat es plötzlich einen lauten Knall. Dann wurde es ganz, ganz dunkel. Und der Herr Müller sagte nichts mehr. Qualmte nur leise vor sich hin.

Grensel nahm ihr Brüderchen bei der Hand.

„Komm“, sagte sie.

Thomas Berscheid

27. Dezember 2009

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