Heinrich legt sich mit dem alten Mann an
„Betten machen!“ rief Heinrich, als er durch die breite Tür ins Zimmer von Helmut Herrmann kam. Der Mann saß vor dem Schreibtisch und zirkelte Zeilen auf das rechtwinklig angeordnete Papier vor ihm. Er nahm von Heinrich nicht die geringste Notiz. Heinrich schloss die Tür. Er schüttelte das Oberbett auf, zog das Laken glatt und legte das Kopfkissen hin.
„Was haben Sie eigentlich in meinem Alter gemacht?“ fragte Heinrich, ohne den alten Mann anzusehen. „Sie waren alt genug für den Krieg.“
Heinrich richtete sich auf, ging neben den Schreibtisch mit dem Rücken zum Kleiderschrank, um Herrmann ins Gesicht sehen zu können.
„Wo waren Sie eigentlich stationiert? In Frankreich? Haben Sie Ouradour platt gemacht?“
Heinrich ging einen Schritt weiter zur Seite. Herrmann blickte zu ihm auf.
„Oder waren Sie in Italien?“ fragte Heinrich weiter. „Mal eben ein paar Hundert Frauen und Kinder in den Tunnel getrieben und abgeknallt? Oder waren Sie...“
Der Stock des alten Mannes schnellte so blitzartig vor, dass Heinrich sich unerwartet an die Schranktür genagelt fand. Herrmann drückte mit dem Handgriff des Gehstocks so fest auf Heinrichs Adamsapfel, dass dieser nicht mehr atmen konnte.
„Du wirst keine Fragen mehr stellen“, drohte Herrmann, und aus seinen Augen sprach Kälte. „Denk an eine Sache, Drückeberger. Ich war jahrelang Schulleiter. Ich habe Hunderte Typen wie dich klein gekriegt.“
Heinrich merkte, dass ihm die Kräfte schwanden. Der Atem war nicht wieder in Gang zu bekommen.
Mit einer schnellen Handbewegung riss Heinrich dem alten Mann den Stock aus der Hand, griff mit der zweiten Hand um das Holz und holte aus. Der Knauf des Gehstocks knallte gegen die Tür des Kleiderschranks.
„Oh, da will aber einer gewalttätig werden!“ höhnte Herrmann, ohne in den Augen ein Zeichen der Angst zu zeigen. „Nur zu, Drückeberger. Auf einen alten, wehrlosen Mann einschlagen. Du wirst in der Hölle schmoren.“
Heinrich lies den Stock sinken.
„Sie sind es nicht wert“, stieß Heinrich hervor.
Er warf den Stock aufs Bett und ging wortlos zur Tür. Herrmann sah ihm nach, sagte nichts. Heinrichs Hände zitterten deutlich, als er die Klinke drückte.
Als Heinrich aus dem Zimmer war, blickte Herrmann sich um. Sein Blick ging zu dem Schrank, an dem er Heinrich gerade festgenagelt hatte. Sollte dieser Junge etwa... Hier wurden die Zimmer alle paar Tage kontrolliert, das hatte man Herrmann bei der Einweisung in die Klinik gesagt. Er löste die Bremsen des Rollstuhls, rollte nach hinten weg und vor die Tür. Zog den alten Mantel heraus, dessen Ärmel schon ganz abgewetzt waren. Mit sicherer Hand glitten seine Finger an die Stelle, von der nur er wusste. Er fühlte über das Innenfutter. Der Ausweis war noch da. Er zog behutsam die Finger aus der Innentasche, tastete über den Knopf.
Niemals hatte er die Tasche in dieser Richtung verschlossen.
Heinrich stellt den alten Nazi zur Rede
Heinrich stellte Herrmanns Rollstuhl mitten in der Mulde ab und ging um den Stuhl herum. Herrmann blickte kurz zu Heinrich herauf, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann gleich wieder, als er Heinrichs Hand zucken sah. Dabei wollte der eigentlich nur das Feuerzeug aus der Hosentasche nehmen. Er blickte sich um. Den Wagen konnte er nicht mehr sehen. Hier waren sie allein. Ganz allein. Heinrich nahm eine Gauloise aus seiner Packung und zündete sie an, blies Herrmann den Rauch ins Gesicht und starrte ihm in die Augen.
„Was wollen Sie von mir?“ fragte Herrmann, mit einem Hauch von Angst in der Stimme.
„Du heißt nicht Herrmann“, begann Heinrich. „Du heißt Helmut Küppers. Geboren am 25. April 1923 in Rheydt. Seit 1940 in der deutschen Wehrmacht. Im Jahr 1942 bist du an die Ostfront gekommen. Nach dem Massenmord in Babi Jar hast du bei einer Erschießung in der Ukraine mehrere Dutzend Zivilisten ermordet. Die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder, einige Juden.“ Er streifte die Asche seiner Zigarette über der Hose von Küppers ab. „Nach dem Krieg hast du deinen Namen geändert und als Lehrer ein unbescholtenes Leben geführt.“
Herrmann sagte nichts. Heinrich nahm den Blick nicht von seinen Augen.
„Wenn du mich die letzten Wochen nicht ständig beschimpft hättest, wäre mir das egal gewesen“, redete er weiter. „Aber dieses ewige Nazi-Gerede hat mich auf die Palme gebracht. Ich habe in deiner Vergangenheit recherchiert. Und jetzt bin ich hier, um dafür zu sorgen, dass keiner mehr vor dir Angst zu haben braucht.“
„Wollen Sie....“ Herrmanns Stimme stockte. „Wollen Sie mich umbringen?“
„Damit ich genauso ein Mörder bin wie du?“ antwortete Heinrich und lachte kurz auf. „Nein, Küppers. So schnell kommst du mir nicht davon.“
Heinrich ging in die Mitte der Mulde. Es war ein Gefühl der Macht, das ihn durchdrang, das Gefühl, Herr über Leben oder Tod zu sein. Er zerdrückte den Filter seiner Zigarette im Sand der Mulde, blickte hinunter auf den alten Mann, der ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Dann beugte Heinrich sich dicht über den alten Mann, sah ihm fest in die Augen.
„Erzähl mir vom Krieg“, fing er an. „Erzähl mir von den kleinen Kindern, die du in der Ukraine erschossen hast. Ich will wissen, wie geil das ist, Unschuldige abzuknallen, die sich nicht wehren können.“
Herrmann drehte die Augen weg. Heinrich nahm seinen Kiefer in die Hand und drehte den Kopf in seine Richtung.
„Erzähl mir davon“, drängte er weiter auf den alten Mann ein. „Haben sie geschrien? Haben sie geweint? Wie weit ist das Blut gespritzt? Hast du ihnen noch den Gnadenschuss gegeben? Ich will Details wissen.“
Herrmann sah Heinrich in die Augen.
„Wie war das mit den Kindern? Hast du ihnen in die Augen gesehen? Was war das für ein Gefühl, als du...“
Heinrich fragte weiter, aber Herrmann hörte nicht mehr hin. Er war plötzlich in einer anderen Zeit, die er lange vergessen glaubte. Bei einem anderen Menschen.
Wilhelm.
Der alte Mann sah seine Augen vor sich. Dieser kleine Junge, irgendwo in der Ukraine. Der gebrüllte Befehl des Offiziers in seinem rechten Ohr. Dann der trockene Knall des Schusses. Und dann war da kein kleiner Junge mehr. Herrmanns Wange zuckte. Er schloss die Augen. Und dann rollte eine Träne langsam von der Wange herab. Eine andere Träne folgte, und dann schluchzte der alte Mann aus der Tiefe seines Herzens, dieses fremde Gesicht vor seinen eigenen nassen Augen, das ihm seit 50 Jahren nicht aus dem Kopf ging.
Heinrich wich zurück. Das hatte er nicht erwartet. Dieser gestandene Nazi, der ihn Minuten zuvor noch am liebsten an die Wand gestellt hätte, saß plötzlich da wie ein kleiner Junge und heulte sich die Seele aus dem Leib. Heinrich war mit der festen Absicht an diesen Platz gefahren, diesen Mann zu demütigen und Rache an ihm zu üben. Nun war es ihm peinlich. Er trat einen abgebrochenen Ast beiseite, blickte auf Herrmann, scharrte verlegen mit den Füßen und wusste nicht, was er tun sollte.
Der alte Mann schluchzte immer noch. Heinrich griff in die rechte Innentasche seiner Jeansjacke und holte ein Paket Taschentücher heraus. Er reichte Herrmann die Packung, ging einen Schritt zurück. Unschlüssig holte er die Packung mit den französischen Zigaretten aus der Brusttasche, zog eine davon heraus. Er wollte zum Feuerzeug greifen. Herrmann sah ihn plötzlich an, nahm zwei Finger gespreizt vor den Mund. Heinrich verstand sofort.
Eine zweite Zigarette glitt aus der Packung.
Der gelähmte Patient kann wieder gehen
Er öffnete die Augen und fixierte Kramer mit einem Blick, der selbst seine Katze zu Boden gezwängt hätte.
„Ich kann mich da an einen Vorfall in der Forensik erinnern“, setzte Heinrich fort. „Ein wegen Gewaltverbrechens verurteilter Straftäter in Sicherungsverwahrung wird unzureichend bewacht aus dem gesicherten Trakt gebracht. Neben ihm ein Pfleger und ein Zivildienstleistender. Dann...“
„Das tut nichts zur Sache!“ schrie Kramer ihn an.
Heinrich ignorierte ihn. Er fixierte Dr. Buske. „Dann zückt dieser verurteilte Straftäter plötzlich ein Küchenmesser. Niemand hat sich die Mühe gemacht, den Mann vor dem Freigang auf Waffen hin zu untersuchen. Der Mann will auf den Pfleger einstechen. Der Zivildienstleistende fällt ihm in den Arm und verhindert eine Bluttat.“
Heinrich machte eine kurze Pause. Die beiden Männer vor ihm starrten ihn an. Dr. Buske spielte nervös mit seiner Maßanfertigung aus der Schweiz.
„Dieser Zivildienstleistende war ich“, setzte Heinrich nach. „Ich habe dafür gesorgt, dass dem Kollegen nichts passiert ist. Und ich habe der Klinik einen Riesenskandal erspart.“
Heinrich beugte sich vor.
„Wer hat hier Dreck am Stecken?“ fragte er langsam und blickte in die Gesichter der Männer ihm gegenüber. Er hörte, dass sich hinter ihm die Tür öffnete.
„Was soll denn das?“ brüllte Kramer entnervt los. „Ich habe doch ausdrücklich gesagt, dass wir...“
Kramer brach mitten im Satz ab.
Dr. Buske nahm plötzlich seinen Blick von Heinrichs Augen. Er öffnete den Mund. Er sah aus, als stünde der Sensenmann persönlich vor ihm. Der teure Kugelschreiber fiel mit einem trockenen Knacken auf den Boden und zersprang in Tausend Teile.
Heinrich wandte sich um.
„Meine Herren, was immer Sie diesem jungen Mann auch gerade an den Kopf werfen, ich glaube, das geht mich auch etwas an.“
In der Tür stand Herrmann.
Auf eigenen Beinen.