Die Autobahn

Grensel und HeteGrensel sagte kein Wort. Auch Hete war ganz ruhig. Langsam und bedächtig, einen Fuß vor den anderen setzend, schlichen sie sich durch das Gebüsch.

Die Luft war angefüllt von frischem Leben. Kleine, emsige Bienchen summten durch die Sträucher und versenkten ihre Rüssel in den Kelchen der Blüten, die sich gerade frisch geöffnet hatten. Überall blühte und spross es, kam es bunt, jung und zart aus der Erde. Bäume hatten plötzlich zarte, grüne Sprösslinge an den Stämmen und auf den Ästen, dort, wo im Winter traurige, farbige Blätter abgefallen waren. Doch nun war es Frühling, und neues Leben erhielt Einzug im Park.

„Der Herr Müller roch aber gar nicht gut“, sagte Grensel.

„Ach, wie wenn Mama Fleisch kocht und auf dem Herd vergisst“, antwortete Hete, der wusste, dass Mama doch zu gern die Richterin bei der Arbeit in dem großen, großen flachen Fernsehen sah, wenn sie wieder eine große Schülerin hatte, die ihren Papa in der Mikrowelle kross geröstet hatte.

„Ob sie uns suchen?“ fragte Grensel ihren kleinen Bruder.

„Wer?“ fragte Hete zurück.

„Na, Mama und Papa!“ präzisierte Grensel.

„Bestimmt nicht“, antwortete Hete, der sich daran erinnerte, wie Mama ihn immer vor dem Kindergarten vergessen hatte, weil sie schnell noch ein Paar Schuhe und noch ein Paar Schuhe und eine Jeans und noch ein Paar Schuhe und eine Bluse und noch ein Paar Schuhe kaufen musste, wenn die Tante vom Sozialamt ihr wieder Geld gegeben hatte, für das sie Hete etwas Gesundes zu Essen kaufen sollte.

Eine putzige kleine Biene summte um Grensel Ohren. Sie wollte danach schlagen.

„Nicht, Grensel!“ forderte ihr Bruder sie auf. „Die sticht dich! Und dann bekommst du eine dicke Zunge und einen dicken Hals und dann kannst du gar nicht mehr atmen.“

„Wie Mama, wenn der Herr Schmitz kommt?“ fragte Grensel zurück.

„Ja, wie Mama“, nickte ihr kleiner Bruder ihr zu, „wenn sie wieder Hoppe Hoppe Reiter spielen und der Herr Schmitz ihr ein paar Scheinchen da lässt.“

Vorsichtig duckte Grensel sich unter der Biene weg. Die kleine Summerin merkte, dass Grensel keine offene Blüte hatte und flog hinweg, auf zu neuem Nektar, den sie ihren Kindern in den Waben bringen wollte.

Hete ging einen Hang hinunter. Dahinter rauschte es. Er nahm sein kleines Schwesterchen bei der Hand und stützte sie, denn sie musste ihr Kleidchen anheben, damit sie nicht an einer dieser scharfen, dornigen Krallen hängen blieb, die der Strauch ihr entgegen streckte.

Und dann standen sie an der großen, breiten Straße.

Hui, wie hier die Autos flitzten! Summ, summ, summ, summ, so ging das in einem fort. Und alle fuhren sie schneller als der Papa in seinem alten Opel, der immer knarzte und zirpte und schepperte, wenn der Papa die Tür zu machte, der immer auf den Löchern in der Straße so ächzte und der immer so nach dem Essen roch, dass die Mama vor zwei Jahren gebrochen hatte, als sie an dem großen See waren und sie bei Papa in dem Schoss irgendwas gemacht hatte, mit dem Mund, was sie aber nach dem vielen, vielen Bier gar nicht mehr so gut konnte.

Ja, hier standen sie nun, und die großen, schnellen Autos flitzten eines nach dem anderen hier vorbei.

„Wo willst du hin?“ fragte Grensel, und sie hatte ein wenig Angst vor den großen, großen Autos, die genau vor ihrer Nase vorbei zischten.

„Zu dem großen See“, sagte Hete zu seinem kleinen Schwesterchen und zog sie auf die Fahrbahn.

Ganz vorsichtig machte der Hete einen Schritt über den dicken weißen Strich. Er warf einen Blick in beide Richtungen, wie es die junge Frau im Kindergarten ihm gezeigt hatte. Doch diese Straße war ganz merkwürdig, denn die Autos kamen alle nur aus einer Richtung. Und da in der Mitte der Straße war eine großes, graue, runde Mauer, die fast so hoch war wie der Hete selber.

Und so machte der Hete einen Schritt auf die Fahrbahn. Hui, was da alles passierte! Da war ein alter Mann, der konnte gar nicht mehr gut sehen, weil er viele, viele Jahre seine Nase in weiße Papiere gehalten und dafür gesorgt hatte, dass viele, viele Menschen andere Menschen hassten. Nun rollte er gemütlich in seinem Wagen, der mehr als 300 Pferde unter der Haube hatte, der einen Stern vorne hatte, und fuhr ganz gemütlich über die glatte Straße. Oh, wie er sich erschreckte, als er plötzlich die Grensel und den Hete vor sich auftauchen sah! Da bekam es der alte Mann mit den ganz schlechten Augen aber mit der Angst zu tun! Und weil alte Mann wusste, dass er als einziger auf dieser großen Straße war, die der große Führer so gern hatte, den der alte Mann immer so toll fand, weil er also ganz allein war, riss er ganz, ganz stark an dem großen Rad vor seinem Gesicht und drehte ganz, ganz schnell nach links.

Hui, wie es da schepperte und knallte und bumste! Denn da war noch ein großes, großes Auto, das unbedingt schneller fahren wollte als der alte Mann und gerade an diesem vorbei fahren wollte. Doch dann drehte der alte Mann an diesem großen Rad vor seiner Nase und dann merkte er plötzlich, dass dieses große Auto genau auf ihn zu kam. Da wurde dem alten Mann plötzlich ganz anders und er wusste gar nicht mehr, was er nun tun sollte, also tat er erstmal gar nichts.

Pardauz ging es da, als das große Auto das Auto mit dem Stern vor sich her schob. Da quietschte es und da kreischte es! Und da bekam es auch der Fahrer aus dem großen Auto mit der Angst zu tun und auch er drehte ganz, ganz schnell an dem großen Rad vor seiner Nase.

„Ra Bumm!“ machte da das große Auto, als es das Auto mit dem alten Mann vor die graue Mauer drückte.

„Urz!“ machte der alte Mann, als sein Auto plötzlich nur noch halb so breit wurde und diese stabile Stange vorne an dem großen Auto seine Beine ganz schmal werden ließ und das Blut zwischen seinen Lippen hervor kam. Und dann wurde es ganz schwarz vor dem alten Mann. Denn die Mauer war gar nicht so gut, wie sie aussah, brach mit einem jämmerlichen Kreischen entzwei und ließ das Auto des alten Mannes auf die andere Seite. Und auch das große Auto folgte ihm und ging mit auf die andere Seite.

„Au weia!“ sagte da die junge Frau, die gerade in diesem Auto, bei dem jedes Rad einen eigenen Motor hatte, saß und ihr rotes Handy am Ohr hielt. „Du glaubst nicht“, sagte sie noch zu ihrer Freundin, die gerade beim Shoppen war, dann zwinkerte sie ein wenig mit den bunten Lidern, denn vor ihren Augen wurden plötzlich viele große Luftballons aufgeblasen. Doch sie trat auf diesen großen Hebel unter ihren spitzen Schuhen und ihr Wagen mit den vier Rädern, von denen Hete wusste, dass sie alle einen eigenen Motor hatten, wurde schneller und schneller und drückte dem alten Mann von der rechten Seite vor den Kopf, der nun ganz klein und flach wurde und aus dem etwas weißes und etwas rotes heraus kam.

Dann war Ruhe. Die kleine Grensel schüttelte sich vor Angst. Hui, wie ihre großen Augen da feucht wurden, wie ihre Knie schlotterten unter ihrem dünnen Kleidchen! Doch der Hete atmete tief durch und nahm sein Schwesterchen dann bei der Hand und führte sie zu der Stelle, an der Mauer auf der Mitte der Straße ein Loch bekommen hatte.

Aber gerade, als der Hete die Grensel durch das Loch führen wollte, da öffnete sich eine der Türen hinten in dem großen, weißen Kasten, den das große Auto hatte. Und dann ergossen sich große, große Teile von Schweinchen, die gestern noch lustig über den Bauernhof gesprungen waren, aus der Tür und purzelten auf die Straße. Und da strömte ganz, ganz viel rotes Blut aus dem großen Auto und machte die graue Straße ganz farbig.

Die Grensel blickte noch zur Seite und sah, wie ein anderes Auto offenbar großen Hunger hatte, denn das Auto sah so aus, als wolle es die kleinen Schweinchen alle auf einmal aufessen, so schnell, wie es in die Schweinchen hinnein fuhr. Grensel sah noch, dass am Steuer ein Mann saß, der ganz müde wirkte und ganz starr nach vorne blickte.

„Lass uns schnell gehen“, sagte der Hete und zog sein Schwesterchen durch die Mauer, die nun ganz verkrümmt aussah, wie Papas letztes Auto, als er viel Bier getrunken hatte und dann noch damit gefahren war.

Und da standen jetzt ganz, ganz viele Autos, die nun nicht zisch, zisch, zisch machten, sondern hup, hup, hup! Da waren viele Menschen, die hatten es ganz eilig, aber die konnten jetzt gar nicht mehr weiter. Denn der alte Mann hing nun ganz schlank in seinem Auto und konnte gar nicht mehr fahren, und deshalb stand er jetzt in diesem putzigen Knäuel auf der Straße und keiner mehr kam an ihm vorbei.

„Was macht der Onkel da?“ fragte die Grensel und deutete auf den alten Mann.

„Ach, der schläft nur“, sagte Hete und warf einen Blick auf das weiße Etwas, das dort aus dem Kopf des alten Mannes heraus gekommen war und auf die Straße tropfte.

„Lass uns zu den Kaninchen gehen“, sagte Hete und zog sein Schwesterchen den kleinen Hang hinauf, dort, wo die weißen Häuser standen.

In der Ferne hörten sie, dass sich eine laute Trompete näherte. Und bei der Trompete war ein blaues Lichtlein, dass immer wieder blitzte.

Thomas Berscheid

22. April 2010