Ostern 2005: Frozzel hat die größten Eier

Frozzel hatte alles gut vorbereitet. In dem Gebüsch vor dem Zaun der Kläranlage, sicher vor Regen, vom Rheinufer nicht einsehbar, lagen die Tanks mit der Farbe. Daneben die Spritzpistolen, die er aus den Gartenspritzen zusammengebaut hatte, letzte Woche im Sonderangebot bei OBI. Der Typ hinter der Theke hatte sich gewundert – was will ein 16jähriger mit einer Gartenspritze und Eimern voll Farbe? Aber alles war Teil seines Plans. Und morgen, Ostersonntag, wäre er der Star.

Alles war gut vorbereitet. Tanja würde sich wundern.

Tanja. Würde er nicht alles für sie tun? Sie war die süßeste und heißeste unter seinen Mitschülerinnen. Den flachsten Bauch unter dem bauchfreien Top. Und dann diese beiden Halbkugeln darüber. Ob die echt waren? Wahrscheinlich nicht. Sie nahmen in der Größe jeden Tag ab und zu. Egal. Bald würde er das nachprüfen können, wenn das mit den Eiern hier klappte. Fünf Eier, und die größten von Köln.

Frozzel konnte es kaum erwarten. Er stellte sein BMX-Bike neben den Strauch und zog das Schloß durch die Reifen. Die Sonne ging bald unter, dann konnte er sich daran machen, seinen Plan Wirklichkeit werden zu lassen.

Denn Frozzel hieß eigentlich gar nicht Frozzel, sondern Michael. Aber im Team nannten sie ihn alle Frozzel. Denn er war der coolste, vor allem wenn sie Graffitis an die Tunnel der KVB sprühten. Aber das war nichts gegen das hier, gegen die größten Ostereier Köln, gegen die Faultürme des Klärwerks in Köln-Stammheim. Wenn er mit seinem Plan fertig wäre, dann wäre er der größte aller Sprayer.

In den letzten Tagen hatte er jeden Abend hier am Rheinufer verbracht. Vom Ufer weg führte ein Weg parallel zum Zaun, und kurz nach 8 Uhr Abends kam hier keine Wachmannschaft mehr vorbei. Aber er mußte schnell machen, denn die Türme hatte eine Riesenfläche, und die mußte er in einer Nacht mit Farbe besprühen.

Die Sonne ging unter, Wolken zogen auf. Es sollte nicht regnen in dieser Nacht, aber man würde ihn auch nicht sehen können, hatte Frozzel sich gedacht. Er blickte sich um, ob jemand den Weg entlang kam. Der letzte Radfahrer, der letzte Hund mit Mann waren verschwunden. Es begann kalt zu werden, so kurz vor Ostern, da trauten sie sich nicht auf die Strecke.

Frozzel zog seine Zange aus der Jackentasche und knipste einige Drähte des Maschendrahtzaunes durch. Zum Glück war dieser nicht elektrisch geladen. Er schnitt ein U in die Maschen und bog das ausgeschnittene Stück zur Seite weg, nahm einen Stahlhaken aus der Tasche und fixierte das Stück. Schnell sah er sich nach rechts und links um. Niemand zu sehen. Er konnte die Geräte holen.

Schnell verschwand Frozzel im Gebüsch. Er drückte einige Male auf die Pumpen, baute genügend Druck auf, damit er die Farbe auf die Türme spritzen konnte. Ein Geräusch. Frozzel blickte auf. Hatte ihn jemand entdeckt? Ein Mann auf einem Mountain Bike flitzte vorbei. Keine Gefahr. Er schnallte sich die Eimer mit der Farbe auf den Rücken und rannte im Galopp zum Loch im Zaun. Er mußte die Eimer kurz abschnallen, weil er sonst nicht durch den Zaun paßte. Dann noch einmal zurück, die Spritze und das Seil holen. Er warf alles durch das Loch im Zaun, nahm den Haken aus den Maschen und stieg durch das Loch, verschloß das Loch wieder.

So wie er jetzt aussah, könnte er aus dem Film Ghostbusters stammen, dachte sich Frozzel, den hatte sein Vater früher mal auf Video. Er lief zu der Treppe, die auf den ersten der Türme führte. Doch verdammt hoch, dachte er sich. Egal. Hier ging es um Tanjas Silikoneinsätze. Frozzel kletterte die Treppe hoch und kam ins Keuchen. Bestimmt 20 Kilo auf dem Rücken, das brachte ihn ins Schwitzen.

Von oben sah das Klärwerk riesig und der Dom klein aus. Frozzel warf einen Blick auf die Wege im Klärwerk. Es konnte ja sein, daß einer der Wachmänner jetzt vorbei kam. Da unten lief jemand mit der Taschenlampe. Daneben ein Schäferhund. Verdammt. Wenn die jetzt das Loch im Zaun sehen… Frozzel sah den beiden nach, sie gingen Richtung Rheinufer, kamen dem Loch näher und näher, bald mußten sie es sehen, und dann… Sie bogen zu den Klärbecken nach rechts ab. Puh. Glück gehabt.

Frozzel ging zum letzten Turm. Wahrscheinlich war es besser von hinten anzufangen, dann hatte er einen kürzeren Weg um zu verschwinden. Er ging auf das Podest, das jeden der Faultürme nach oben hin abschloß. Am Geländer hakte er einen Karabiner ein, an dem ein Kletterseil befestigt war. Er klemmte die Sicherung zum Abseilen kurz dahinter an. Gut, daß sie mit der Klasse im vergangenen Sommer in der Eifel waren und in Nideggen Abseilen geübt hatte.

Er schwang ein Bein über das Geländer und ließ sich herunter. Zwei Meter unter der Kante begann er Farbe auf den Turm zu spritzen. Verdammt sperrig die Dinger, dachte er sich, das geht bei weitem nicht so gut, wie er sich das gedacht hatte. Im Film sah das immer so einfach aus. Endlich hatte er den ersten Meter des „A“ fertig. Er nahm die Dose aus seiner Jacke und zog die Outline mit schwarz nach.

Sag mal A, dachte er sich, als er an den unteren Ende des letzten Buchstabens von Tanjas Name ankam. Er vollendete den Abschluß mit Schwarz. Und fühlte sich schon vom ersten Mal ausgelaugt. „Denk an Tanja“, dachte er sich. Er drückte seine Stiefel vom Beton ab, hopste nach rechts, nur nicht auf die Farbe kommen, und atmete tief durch. Dann stemmte er die Stiefel gegen die Wand und zog sich nach oben. Mühsam, anstrengend, langsam, aber es ging beharrlich nach oben.

„Ich muß was essen“, sagte er zu sich, als er oben ankam. Neben der Zange fand er ein Mars. „Mal sehen ob die Werbung recht hat“, dachte er sich. Dann nahm er den Karabiner vom Geländer und ging auf den zweiten Turm.

Erneut hakte er den Karabiner ein und hangelte sich nach unten. Das „J“ war einfacher zu sprühen als das „A“. Er brachte den ersten Balken auf den Beton, hangelte sich nach links rüber. Das sollte reichen. Er sprühte die Umrandung links und oben auf die Farbe, drückte sich nach rechts rüber.

„Gott, war das ein langer Bogen“, dachte er sich, als er das „J“ unten abschloß. Die Arme wurden ihm schwer. Er hatte kein Mars mehr. Als er die schwarze Sprühdose aus der Jacke nahm, merkte er, daß seine Hand zitterte. Er drückte den Knopf nach unten, die Dose glitt ihm aus der Hand. Vorbei. Mit einem Scheppern schlug sie auf dem Beton auf. Sollte er sie nach oben holen? Oder zuerst wieder nach oben klettern?

Frozzel stemmte die Stiefel gegen den Beton und zog sich nach oben. Er schaffte eine Handbreit an Seil. Er hatte keine Kraft mehr. Die Aktion war aus der Ferne machbar, aber jetzt hatte er seine Kräfte doch unterschätzt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich die letzten fünf Meter auf den Boden abzuseilen. „Okay“, dachte er sich, „dann gehe ich wieder die Treppe hoch.“ Er löste die Bremse und ließ sich langsam nach unten gleiten.

Nur noch drei Meter bis zum Beton. Frozzel sah nach unten. Da lag die schwarze Dose. Ein Lichtschein näherte sich ihr. Die Schnauze eines Schäferhundes schnüffelte daran. „Hasso, gib her!“ befahl der Wachmann. Hasso ging tatsächlich beiseite. Der Wachmann nahm die Dose auf. „Müssen die ihren Müll auch überall rumliegen lassen?“ sagte der Mann.

Frozzel rutschte das Herz in die Hose. Kaum einen Meter über dem Wachmann schwebten seine Stiefel. Wenn der jetzt nach oben sah… Er sah schon die Bilder vor sich, wie ihn der Schäferhund zerfleischen würde. Und der Hund richtete langsam seine Nase nach oben. Nur noch wenige Sekunden, dann würde er…

„Weiter, Hasso!“ befahl der Wachmann. Hasso gehorchte und vergaß, daß er Frozzel gewittert hatte. Er wußte nicht, daß er mehr Hirn hatte als der Wachmann.

Ruhe lag nun über den Anlage. Frozzel ließ sich auf den Boden herunter. Der Tank auf seinem Rücken war merklich leichter geworden. Er sah sich um, ob der Wachmann zurückgekommen war. Der hatte offensichtlich nichts gemerkt. Frozzel ging um den Faulturm herum. Plötzlich hörte er ein Bellen. Der Schäferhund hatte am Beginn der Treppe neue Witterung aufgenommen. „Pfui Hasso!“, herrschte der Wachmann ihn an. „Gib endlich Ruhe! Ist sowieso gleich Feierabend!“ Der Wachmann zog Hasso weg.

Also die letzte Runde heute. Frozzel überlegte, ob er für das „N“ noch genug Kraft hätte. Da hörte er ein Pfeifen. Es war das Funkgerät des Wachmanns. Der Mann sprach laut. Und wiederholte alles, was man ihm sagte. Also konnte Frozzel hören, daß einer der Chefs der Anlage die ersten letzten Buchstaben von Tanja entdeckt hatte.

„Komm mit!“ herrschte der Wachmann Hasso an. Frozzel schlich sich um den dritten Turm.

„Oh Scheisse!!!“ brüllte der Wachmann. Er konnte offensichtlich doch lesen. „Und das in meiner Schicht!“ Frozzel schlug es die Ohren nach hinten, die Schimpfwörter kannte er bisher nicht. Er nahm die Beine unter den Arm und rannte zum Loch im Zaun. Der Schäferhund zog an seiner Leine, aber der Wachmann dachte nicht daran, ihn auf Frozzels Fährte anzusetzen.

„Weg hier!“ dachte Frozzel sich. Er schnappte sich sein Bike, zog das Schloß heraus und schnellte auf den Sattel. Ein älteres Ehepaar stand gerade auf dem Weg an der Kläranlage entlang.

„Sieh dir das an“, sagte der Mann. „Jetzt verkaufen die von der Stadt schon die Faultürme als Werbefläche. Soweit hat die CDU Köln gebracht.“

„Und alles für den Stüssgen“, sagte die Rentnerin. „Dafür zahlen wir denen auch noch Geld. Alles korrupte Bonzen“

Frozzel drehte sich um. Er hatte ein riesiges „JA“ auf die letzten beiden Faultürme gesprüht. Vielleicht sollte er bei Tengelmann anrufen. Und vielleicht könnten die Tanja sagen, daß sie es eigentlich war.

Thomas Berscheid, 22. März 2004