Reisebericht Norwegen mit dem MTB

Warten, warten, warten. Seit zwei Tagen sitze ich jetzt in Narvik fest, hatte Gelegenheit, die Stadt zu erkunden, denn ich warte auf mein Bike, das ich vor einer Woche in Köln, drei Tage vor meiner eigenen Abreise, auf die Reise geschickt habe. Narvik, das ist das Ende der Erzbahn von Kiruna aus, da ist der Erzhafen in dieser Stadt, der ihr das Gepräge gegeben hat. Und noch etwas anderes hat Narvik den Stempel aufgedrückt: Die Generation unserer Väter und Großväter, die im Verlauf des II. Weltkrieges in dieser Stadt mit der Politik der verbrannten Erde so ziemlich alles zerstört hat, was sich auf dieser Erde befand. Ich war einige Stunden im Kriegsmuseum, und es ist schon bedrückend, was sich in den Jahren von 1940 bis 45 ereignet hat. Kein Wunder, daß kein Haus in vielen norwegischen Städten älter ist als 40 Jahre. Und kein Wunder, daß diese nach dem Kriege neu aufgebauten Städte so häßlich aussehen, daß ich diesen Anblick später in einem Job als Städtebauer immer als Abschreckung vor Augen haben werde!

YEAH!!! Gerade bin ich, wie in den letzten Tagen zur Routine geworden, zum dritten Mal am Bahnhof in Narvik, habe gerade die freundliche Beamte hinter dem Schalter nach dem Verbleib des Bikes gefragt, da sehe ich es im Gepäckabteil des letzten Zuges dieses Tages heranrollen. Ich laufe zum Ausladen, und tatsächlich ist es mein Bike. Etwas lädiert, der Lack ist am Oberrohr bis auf dem Stahl runter, obwohl es dick verkleidet war. Scheiße. Aber trotzdem, ich fahre zum Campingplatz, baue schnell das Zelt ab und düse dann, in strömendem Regen, los nach Norden. Bis zum Abend mache ich 60km, dabei werde ich ganz schön naß. Aber stört mich das? Regen gehört zu diesem Land, und was man hier an Landschaft geboten bekommt, das macht einen betrunken, das macht süchtig.

Am nächsten Tag weiter nach Norden, dabei meide ich nach Möglichkeiten die E6, treffe dafür einige andere Radler, davon die meisten aus Deutschland – wer ist sonst so verrückt? Nur die Italiener, die düsen in 4 (!) Tagen von Rom bis zum Nordkap, je zu einem Drittel auf Motorrädern, in Reisemobilen und Pkw. Der zweite Fahrtag, ich lerne wieder, wie man Berge bezwingt, lerne meine Kräfte einzuteilen. Am Abend zuvor war ich auf über 300m geklettert, und die geht es jetzt auf einer Nebenstraße wieder hinunter – eine Abfahrt im strömendem Regen, das ist ein Erlebnis, auch das kann Spaß machen. Immer wieder komme ich auf die E6 zurück, und was sich dann an Ausblicken bietet, ist unvergleichlich. Ich verschieße einen Film nach dem anderen, aber wichtiger ist mir, die Bilder im Kopf zu speichern.

Nach fünf Tagen und 550km erreiche ich Alta. Davor liegen 2 Baustellen, beide um die 15km lang – und nur langsam zu passieren, eine Qual für Mensch und Material. Außerdem machen sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar, die Muskeln in den Beinen sind sauer, ich brauche einen Tag Ruhe. An meinem Bike ist zudem der Schaltungszug für den vorderen Umwerfer gerissen, und der ganze Schalter fiel mir bei der Reparatur auseinander – mußte es Campagnolo sein??? Die Sonne scheint, während ich durch den Regen fahre, typisch für das Wetter in den Fjorden. Und: diese verdammte Straße. Dauernd geht es rauf, runter, rauf, runter. Kaum hast Du dich bei einer Abfahrt etwas erholt, da mußt Du auch schon wieder raufklettern.

Alta: Nach dem Krieg wiederaufgebaut, eine Stadt mit einem Zentrum, das keines zu sein scheint: Neben den üblichen Geschäften Vertretungen aller möglichen Autofirmen, alles ist asphaltiert und weitläufig angelegt. In der Post hole ich einen Brief für mich ab, lasse mir von dem Postbeamten den Weg zum Touristbüro erklären. Es ist wahnsinnig, wie natürlich freundlich die Leute hier sind, da wirkt nichts aufgesetzt oder künstlich. Ich wechsele den Campingplatz, wasche und mache mir einen ruhigen Tag.

Dann geht es, gut erholt, wieder auf die Strecke, nicht mehr die E6 lang, sondern nach Süden. Und es ist warm, am Vormittag fahre ich im T-shirt durch die Gegend. Die Straße führt durch einen Canyon nach oben auf die Hochfläche, aber ich spüre die Steigung kaum, so fasziniert mich der Anblick. Vom Straßenrand aus sehe ich während der Fahrt hinunter in den Canyon, vom Auto aus wäre das nicht möglich. Geil!

Ein wildes Camp, der Kampf mit den Mücken und Fliegen. Am nächsten Tag fahre ich nach Karasjok, meine letzte Nacht in Norwegen. Im neuen Samencenter esse ich zu Abend, sehe mir vorher den Ort an, der zu 85% von Samen bewohnt wird. Ein netter Campingplatz, und ein Ort, in den ich später bestimmt noch einmal zurückkommen werde.

Ich verlasse Norwegen, fahre über die Grenze und muß dann in einer Baustelle wieder aus dem Tal herausklettern. Da kommt man ganz schön ins Schwitzen… Die Aufschriften auf den Schildern, was bedeuten die eigentlich? Es ist nicht zu entschlüsseln, eine vollkommen ungewohnt Sprache. Ich mache eine Pause, werde von einem Finnen, kaum älter als ich, aber weniger Zähne, angesprochen – „Vetta, vetta; Joki, joki“. Häh? Er versteht kein Englisch, ich kein Wort finnisch. Später erfahre ich, daß alle möglichen Leute mich auf Wasser hinweisen wollen.

Und dann fängt es an zu regnen. Dauerregen bis zum nächsten Morgen, ich komme in Inari an, finde einen Campingplatz, schlage mein Zelt auf und will kochen. Es ist kalt in der Küche, denn sie hat keine Tür. Den eisigen Abend – es ist deutlich kälter geworden – unterhalte ich mich mit drei Hamburgern, der gesamte Platz ist fest in deutscher Hand. Ich beobachte andere Leute dabei, wie sie ihre Billigzelte aufschlagen. Es zeigt sich, daß sich ein Innenzelt bewährt, das man nicht extra aufbauen muß. Redet da jemand von Schadenfreude???

Am nächsten Tag läßt der Regen etwas nach. Nach dem Frühstück gehe ich in die Stadt, und eigentlich sollte dies ein Ruhetag werden. Hm. 4 Tankstellen, 4 Banken, 1 Supermarkt. Das was es dann fast schon. Vom See sehe ich nicht viel, dazu ist die Sicht zu schlecht. Der Einkauf: 1 Knäcke, 1 Brot, 1 Liter Milch, eine Butter, dafür zahle ich dann umgerechnet 16 DM. Und ich dachte, Norwegen sei teuer! Es fängt wieder an zu regnen, um 5 vor 2 weist der Besitzer des Campingplatzes mich darauf hin, daß ich bis 2 Uhr das Zelt abgebaut haben müsse. Die Armeeklamotten, diese verschlossene unfreundliche Art, das ist nicht mehr Skandinavien, das ist Ostblock. Ich erfahre erst später, daß in der UdSSR gerade geputscht worden ist, und ich bin nur rund 200km von der Grenze entfernt. Überall Straßenschilder in kyrillischer Schrift, vielleicht deshalb die gedrückte Stimmung?

Enttäuscht verlasse ich Inari und fahre 40km zum nächsten Campingplatz in der Nähe von Lemenjoki, wo man nach Gold graben kann. Und auch hier wieder: Eine Küche ohne Tür!!! Mein Gott, kennen die hier keine Türen? Der Abend und das Frühstück werden verdammt kalt, ich komme aus dem Frieren nicht heraus. In der Nacht kühlt es soweit ab, daß ich die Kapuze meines Schlafsacks zuziehen muß. Es kann nicht weit über 0øC sein.

Am nächsten Tag fahre ich weiter, vielleicht ist der nächste in der Karte verzeichnete Campingplatz ja besser… Die Finger bleiben kalt, trotz der Sommerhandschuhe. Ich schätze, daß es nicht über 8øC ist, eher um die 6ø, denn da liegt die Temperatur, ab der die Finger in diesen Handschuhen zu frieren anfangen. Diese Straße ist laut Reiseführer eine der einsamsten in Lappland. Hm. Stimmt. Den ganzen Tag über keine 20 Autos, und auf 200km kein Geschäft. In einer Baari will man mir keine Milch verkaufen. Der Platz ist fast geschlossen, die alte Dame versteht kein englisch. Hm. Verdammt. Also weiter nach Kittilä. Ich quäle mich über 45km Erdstraße, dann habe ich 180km hinter mir, zum Glück mit Rückenwind, sonst wäre ich total abgekackt. Und dann: Der Campingplatz ist geschlossen, die Jugendherberge ist geschlossen, ich müsste für eine Hütte 200 Finnmark latzen. Verdammt. Finnland, NEIN DANKE! Was freue ich mich auf Schweden!

Am nächsten Tag, 2 Tage ohne Dusche, ab nach Kolari, und rüber nach Schweden. Die Leute werden blonder, dann komme ich in Pajala an. Die Bank ist geschlossen, aber als ich gehen will, machen mir die Angestellten die Tür auf und lassen mich einen Euroscheck einlösen. Was ein Gegensatz zu Finnland! Der Campingplatz scheint zu, hat „begrenzten Service“, aber ich habe keine Münzen, um die Besitzer anzurufen. In der Touristinformation erledigt die Frau hinter dem Tresen das für mich, ich unterhalte mich mit ihr über den Frauenmangel – jedes Jahr kommen mehrere hundert heiratswillige Frauen nach Pajala, die über Anzeigen der Stadt geworben werden, denn hier herrscht Mangel an Frauen in diesem Alter. Wenn man allerdings so durch die Straßen blickt, scheint es, als ob sich das Problem in den nächsten Jahren lösen wird, denn ich sehe sehr viele junge Mädchen hier. Auf dem Platz habe ich dann mit 4 Leuten alles für mir – die Küche (mit Tür!), den Fernsehraum, die Duschen. Ich sehe Michail Gorbatschow die Treppe aus dem Flugzeug heruntersteigen, das ihn von der Krim zurückgebracht hat. Es ist also vorbei. Puh. Erleichterung macht sich breit. Ich rede mit dem italienischen Paar darüber, mit dem ich hier alleine bin, bekomme von einem Lehrer am nächsten Morgen nähere Informationen. Dann geht’s weiter.

Ich fahre wieder nur 40km, komme dann in Tärendö an. Auch ein schöner Platz, auch viel Raum für mich, ich mache nie mehr in der Hauptsaison Urlaub. Im Restaurant esse ich Ren, schmeckt ähnlich streng wie Wild. Die Kellnerin amüsiert sich über mich, die tolle offene Art der Schweden, ohne daß man dabei Hintergedanken hat, wie man sie in Deutschland hätte. Später, als ich Wäsche abhänge und sie Feierabend hat, wird sie mit dem Rad vorbeifahren und wir werden uns zuwinken.

Wieder auf die Straße. Ich fahre nach Gällivare, zum dritten Mal seit 1986. Es ist warm, als ich ankomme, 23°C, so habe ich die Stadt noch nie erlebt. Die Innenstadt wird verkehrsberuhigt; bin gespannt, wie das in ein paar Jahren aussieht, wenn ich wiederkomme. Denn das werde ich bestimmt. Dann ein Ruhetag, aber um 3 Uhr habe ich genug und fahre auf den Dundret. Dieser Berg ist im Winter ein Tummelplatz für Skifahrer, im Sommer für Drachenflieger. Jetzt kurbele ich hoch, auf 4km Strecke knapp 500 Höhenmeter. Vor 2 Jahren bin ich hier ganz schön abgekackt, aber diesmal geht es fast mühelos. Mensch, die 1500km in den 2 Wochen vorher haben ganz schön Training gebracht! Die Abfahrt ist weniger schön, es regnet wieder in Strömen, aber dann kommt eine warme Dusche, und die Klamotten sind nach einer Nacht in der Sonne am nächsten Tag wieder trocken. Was will man mehr?

Zum Schluß fahre ich über Jokkmokk, besuche den größten Samenmarkt und erreiche nach 2 Tagen Boden, die größte Garnisonstadt Schwedens. Man sieht zwar wenig Soldaten in der Stadt, aber die Straße darf man als Ausländer nicht verlassen, und direkt neben dem Campingplatz wird geballert, was das Zeug hält. Es gelingt mir, die Rückreise zu organisieren. Mein Gott, freue ich mich auf Deutschland, auf Brot, Bier, französischen Rotwein…

Thomas Berscheid, 1991