Dritte Hilfe

In den vergangenen Monaten habe ich einiges über Menschen gelesen, die an Unfällen auf der Straße langsam vorbeifahren, diese mit ihrem Handy aufnehmen und sich daran erfreuen. Die Rettungsarbeiten behindern, Staus verursachen. Und Menschen zusätzlich traumatisieren.

Diese Leute sollte man eigentlich nackt in der Stadt an den Pranger stellen und sie mit Fäkalien bewerfen. Das ganze dann live bei YouTube zu sehen. Wohin das führt, kann man im Film „Muxmäuschenstill“ beobachten.

Ich habe solche Leute zuletzt bei einem Unfall auf der Gegenspur im Stautunnel in Köln-Kalk erlebt. Da waren ein paar deutsche Luxuskarossen ineinander verkeilt. Mehr habe ich nicht gesehen. Meine Augen waren auf der Straße, weil man nie weiß, ob die vollgedröhnte Dumpfbacke von Gaffer vor einem dann nicht doch plötzlich seine Kiste mitten auf der Spur dreht und Köln endgültig vom Autoverkehr abschneidet.

Schluss mit lustig. Ich lebe nun seit fast 29 Jahren in Köln. In dieser Zeit hatte ich dreimal die Gelegenheit, erste Hilfe zu leisten. Jeder dieser Fälle ist mir in Erinnerung geblieben.

Erste Hilfe

Da, wo heute das Nippeser Radlager ist, also nicht mehr unterhalb meiner früheren Wohnung, war Mitte der 1980er Jahre ein Discounter. In der ersten Woche meines zweiten Semesters ging ich dort nach durchzechter Nacht am Vormittag etwas für das Frühstück holen. Eine ältere Dame lächelte mich versonnen an. Irgendwas, so dachte ich mir, stimmt mit der nicht. Dann verdrehte sie die Augen, kippte nach hinten weg, donnerte mit dem Hinterkopf in das Regal für Flaschenbier, Sixpacks und Bierdosen. Schließlich blieb sie zuckend unten mit dem Kopf im Regal liegen.

Außer mir waren Hausfrauen und die Angestellte des Discounters im Laden. Ich blickte in geschockte, ratlose und hilflose Gesichter. Zwei Gedanken zuckten durch meinen Kopf:

  1. Verdammt. Das sieht nach epileptischem Anfall aus. Du bist der Einzige hier, der Erste Hilfe leisten kann.
  2. Geil! Endlich mal ein Anfall und ich bin live dabei!!!

Zu dem zweiten Gedanken muss ich sagen: Ich hatte zuvor auf meiner Zivildienststelle im Haus Grefrath extra eine Fortbildung von Dr. Feyerabend zu epileptischen Anfällen absolviert. Danach gab es vier Anfälle, und bei allen kam ich zu spät.

Ich wusste also, was zu tun war. Die Frau hatte keinen Zungenbiss, intubieren war also nicht nötig und einen Gummikeil hatte ich auch nicht griffbereit. Ich habe die Frau dann abgepolstert, damit sie sich beim Zucken keine Verletzung holt. Eine Angestellte brachte mir einen Kittel zum Polstern. Ein älterer Mann kam vorbei, sah die Frau zucken und ging, recht abgeklärt, zu der Angestellten.

Die Frau wachte wieder auf und wollte sogleich aufstehen. Ich drückte sie sanft zurück und sagte ihr, dass der Notarzt unterwegs sei. Sie konnte sich an nichts erinnern. Wenn es noch eine Bestätigung gebraucht hätte: Damit war klar, dass es ein Anfall war.

Die alte Dame war Epileptikerin und hatte Diabetes. Sie hatte nicht gefrühstückt. Der ältere Mann, offenbar ihr Gatte, kam mit einer Zuckerlösung. Was hatte ich bei Dr. Feyerabend gelernt? Eine Unterzuckerung kann bei Epileptikern mit Diabetes einen Anfall auslösen. Die Dame wusste das. Entsprechend streng war der Notarzt mit ihr.

Ich war bis zur Übernahme durch den Notarzt bei der Dame geblieben. Nun konnte ich endlich zur Kasse gehen. Alle Frauen, die dort standen, machten mir Platz. Und die Verkäuferin dankte mir noch einmal.

Zweite Hilfe

Da geht man nach einer recht kurzen Nacht an einem Sonntag Vormittag die Treppe am Ebertplatz herunter und denkt an nichts Böses. Auf der Rolltreppe nimmt man einen Mann wahr, der blutend oben auf der Kante sitzt.

Quietsch.

Mann? Blutend? Ich habe auf der dritten Stufe von oben eine Notbremsung hingelegt und spontan kehrtgemacht. Was auf der Rolltreppe war, hatte ich nur im Unterbewusstsein zur Kenntnis genommen.

Da saß tatsächlich ein gut gekleideter Mann, ca. 60 Jahre, edler Mantel, glänzende Schuhe, edle Stoffhose und ebensolches Hemd, der gerade eine Seidenkrawatte aus einer Platzwunde an der Stirn vollblutete. Der Mann war kein Penner, sah sehr bürgerlich aus, blickte mich versonnen an und hatte eine deutliche Fahne. Um ihn herum standen eine Handvoll Leute, die sich um ihn kümmerten. Ich fragte, ob jemand schon den Rettungswagen gerufen hätte. Verständnislose Blicke.

Wenige Sekunden später stand ich am Kiosk am Sudermannplatz und rief den Rettungswagen. Den Rest der Aktion bin ich bei dem Mann geblieben. Und bin erst in die Redaktion gefahren, als der Sanitäter die Tür zugemacht hatte.

Dritte Hilfe

Eine kurze Geschichte. Die ganze Familie wartet am S-Bahnsteig. Eine Bahn hält, die Meute steigt aus, es ist nicht unsere. Ein Mann sieht sich am Bahnsteig um fällt beim Aussteigen auf die Nase.

Ich brauche drei Sekunden, bis ich meiner Frau endlich den Rucksack in die Hand gedrückt habe. In der Zwischenzeit hat sich der Mann bereits hochgerappelt. Er war auf der Suche nach seinem Anschluss und hatte die Kante nicht gesehen.

Nullte Hilfe

Ach ja, und dann war da noch ein enges Familienmitglied, das plötzlich beim Kaffeetrinken im Garten Blut erbrach. Die ganze Familie rannte nach draußen. Ich blieb erstmal ruhig sitzen und dachte nach, was da los sei. Die Krankengeschichte kannte ich ja. Dann wusste ich, was zu tun war: Rückenlage, Beine hochlegen, Schockzustand beobachten und Rettungswagen rufen.

Das waren die Fälle, die mir in Erinnerung geblieben sind. Ich habe kein Helfersyndrom. Zu Beginn meines Studiums bin ich gefragt worden, ob ich Ausbilder bei der Bundeswehr gewesen sei. Wir hatten einen Bettler vor unserem Supermarkt. Nach einem Monat wusste er, dass er bei mir auf Granit beißt – 14 Monate Arbeit mit Suchtkranken haben ihre Spuren hinterlassen. Für mich haben diese drei Fälle aber gezeigt, wie wichtig es ist, Anderen im Notfall zur Seite zu stehen. Ich weiß deshalb auch, dass ich immer wieder so handeln werde.

Und ich würde diese ebenso bei Dumpfbratzen tun, die gerade beim Spielen mit ihrem Handy am Steuer ihre Beine abgerissen haben.